Kieferfunktionsdiagnostik

Die beiden Kiefergelenke sind funktioneller Bestandteil des Kauorgans. Der Unterkiefer wird über diese Gelenke relativ locker an der Schädelbasis befestigt.

Die Zähne haben durch ihre Stellung und ihre Form Einfluss auf die Funktion der Gelenke. Das Kiefergelenk ist über Bindegewebs- (Faszien) und Nervenstrukturen mit vielen Körperregionen verbunden. Veränderungen in den Kiefergelenken, Funktionsbeeinträchtigung der Kaumuskulatur, Fehlstellungen der Kopfknochen und der Zähne, sowie Stress und viele andere Faktoren, können die normale Funktion des Kauorgans negativ beeinflussen und letztendlich das Krankheitsbild der CMD (Cranio mandiuläre Dysfunktion) auslösen.

Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) ist aufgrund ihrer komplexen Entstehung und der großen Symptomvielfalt oft nur schwer zu erkennen.

So können ein Beckenschiefstand, eine funktionelle Beinlängenveränderung oder auch Ohrgeräusche (Tinitus) und Schwindel (Nausea) Symptome einer CMD sein. Man spricht von einer absteigenden Symptomatik, wenn Störungen im Kauorgan Einfluss auf zum Teil weitentfernte Körperregionen haben. Umgekehrt können auch strukturelle und funktionelle Veränderungen an der Wirbelsäule, dem Becken oder den Extremitäten (Armen und Beinen) der Grund für Schmerzen und falsche (unphysiologische) Bewegungsabläufe im Kausystem sein. Dies würde einer sogenannten aufsteigenden Symptomatik entsprechen.

Zusätzlich erschwert wird die Diagnostik und die Therapie der CMD, weil jeder Mensch anscheinend eine individuelle Toleranzgrenze für pathologische Veränderungen im oder am Kauorgan hat. Manche Menschen können Jahre und sogar Jahrzehnte frei von Beschwerden mit einer klar erkennbaren strukturellen Kiefergelenkserkrankung, z. B. Perforation oder Zerstörung des Gelenkknorpels und entzündlich degenerative Knochenveränderungen (Arthrosen), leben. Bei anderen Menschen reichen minimale Veränderungen, die unter Umständen mit keinem Röntgengerät oder einer MRT (Magnetresonanztomografie) nachweisbar sind, aus, um starke Schmerzen und Beschwerden auszulösen.

Praktischerweise wird daher eine Dreiteilung vorgenommen:

 

  • kauorgangesunde Menschen
  • kauorgankranke Menschen
  • kauorgankompensierte Menschen.

Die Identifizierung der erkrankten Menschen ist in der Regel nicht schwer. Sie haben Beschwerden oder Schmerzen und suchen den Therapeuten auf bzw. haben schon andere Therapeuten aufgesucht und werden zum Funktionstherapeuten überwiesen. Das Erkennen eines kompensierten Typs und die Abgrenzung zum kaufunktionell gesunden Menschen ist eine sehr viel größere Herausforderung, da man nicht weiß welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. So kann z. B. das Einsetzen einer neuen Zahnkrone mit minimal anderer Oberfläche der Auslöser einer CMD sein.

Deshalb ist es wichtig ein kaufunktionelles Screening vor jeder Versorgung mit Zahnersatz durchzuführen. Die kaufunktionelle Untersuchung und Diagnostik sollte umso umfangreicher sein, je ausgedehnter der geplante Zahnersatz werden soll.

In manchen Situationen kann es notwendig sein, vor dem definitiven Zahnersatz einen provisorischen Zahnersatz einzugliedern, um die Auswirkungen auf das Kausystem bzw. den Körper zu testen. In vielen Fällen ist es sinnvoll, die Auswirkungen des Zahnersatzes auf den Körper durch die Zusammenarbeit mit Osteopathen und/oder Orthopäden zu überprüfen.

Eine besondere funktionelle Herausforderung ist es, implantatgestützten Zahnersatz anzufertigen. Denn Zähne haben durch die Bindegewebeverankerung (parodontaler Bandapparat/Parodont) in gewissen Grenzen die Möglichkeit sich zu bewegen und so Belastungen und Veränderungen auszugleichen. Ohne diese bindegewebige Verankerung wäre zum Beispiel eine kieferorthopädische Therapie überhaupt nicht möglich. Dentale Implantate hingegen sind fest mit dem Knochen verwachsen (osseointegriert). Ihnen fehlt die Möglichkeit der Anpassung.

Bei Fehlbelastung oder Überlastung drohen Implantatverlust, Materialversagen wie Abplatzungen, Schrauben- oder Abuttmentbrüche. Es kann sogar zum Bruch des Implantatkörpers im Knochen kommen.

Da das übrige Kausystem selbt in der Lage ist, Fehlbelastungen zu kompensieren, werden Probleme nicht immer sofort erkannt und können dann zu Spätfolgen wie der Ausbildung einer CMD führen oder beitragen.

Das jugendliche Gebiss unterliegt generell einer dynamischen Veränderung (Wachstum). Bis zum Erreichen des Erwachsenenalters werden Zahne ersetzt, die Knochen wachsen und die Lage der Knochen zueinander ändert sich. Muskelzüge und Nerven passen sich an. Bei so viel Dynamik und Veränderung scheint es daher sehr unwahrscheinlich, dass die Lageveränderung einzelner Zähne oder eine Veränderung der Ober- und Unterkieferbeziehung in dieser Phase des Wachstums Probleme bereitet. Daher besteht aus kieferorthopädischer Sicht kein Zusammenhang zwischen KFO-Therapie und CMD.

Dem gegenüber steht die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche mit Symptomen einer CMD unsere Praxis aufsuchen. Die Bandbreite der Beschwerden reicht von nicht altersgerechten Zahnabrieb (Abrasionen), über temporäre Beschwerden während Prüfungsphasen bis zum Vollbild der CMD.

Die Datenlage in der Literatur ist, soweit überhaupt vorhanden, sehr uneinheitlich. Aussagekräftige Forschung in der Wachstumsphase ist aufgrund der hohen Dynamik und der großen intra- und interindividuellen Einflüsse nur schwer möglich. Bumann et al (1996) haben an Modellen (FEM-Modell) gemessen, wie sich kieferorthopädische Kräfte auf die Rotation der Schädelknochen auswirken.

Die dadurch entstehende Spannung kann in Zusammenhang mit Kopfschmerzen und Merkstörungen gebracht werden. Osteopatisch orientierte Autoren (Ridder 2013) empfehlen kieferorthopädische Therapien generell halbjährlich mit osteopatischer Therapie/Befundung zu begleiten, um ggf. Spannungskräften entgegen zu wirken, die im Verlauf der kieferorthopädischen Therapie entstehen können.

In dem überlappenden Behandlungsfeld zwischen Kieferorthopädie und Oralchirurgie wird diskutiert, ob es bei zu geringen Platzverhältnissen durch den Weisheitszahndurchbruch nicht nur zu einem verstärkten Druck auf die Zahnreihe kommt und so Engstände verstärkt werden sondern zusätzlich noch der davorliegende Molar (Mahlzahn) angehoben wird. Die hintere Kante des Molaren kann dann unter Umständen ein Funktionshindernis sein. Als Therapiekonsequenz wird die frühzeitige Entfernung des Weisheitszahnkeims empfohlen.

Die Therapie der CMD setzt in der Regel eine umfassende Diagnostik voraus. Nach genauer Befunderhebung erfolgt neben der initialen Schmerztherapie die Anfertigung einer Kunststoffschiene, die je nach Krankheitsbild nur nachts oder den ganzen Tag getragen werden muss. Begleitend werden Befunde von anderen Fachdisziplinen eingefordert, um die Ursache (aufsteigende oder absteigende Symptomatik) zu erkennen.

Gelingt es dann mit der Schienentherapie eine Beschwerdelinderung oder gar Beschwerdefreiheit zu erreichen, kann die dauerhafte Gebissveränderung erwogen werden. Irreversible Therapiekonzepte, wie die Überkronung von Zähnen oder das Einschleifen von Zahnhartsubstanz, sollten erst durchgeführt werden, wenn eine längere Zeit (3/4 Jahr und länger) Beschwerdefreiheit bestand.

Weitere Informationen zu CMD finden Sie auch unter www.cmdcheck.de. Hier können Sie auch einen Selbsttest machen. Gerne können Sie uns auch jederzeit zu diesem Thema direkt ansprechen.

Erkrankungen des Kiefergelenkes sind mitunter nur schwer zu erkennen, weil die damit verbundenen Symptome sich an anderen Körperstellen äußern. Andererseits gibt es viele Literaturstellen die eine sehr hohe Adaptationsmöglichkeit der Kiefergelenke beschreiben.

D. h.: Häufig findet man bei der Untersuchung von Kiefergelenken offensichtliche krankhafte Veränderungen, die aber dem Patienten keinerlei Beschwerden machen. Daraus ergibt sich der zur Zeit in der Zahnheilkunde vorherrschende Therapieansatz, erst bei Auftreten von Schmerzen mit der Therapie zu beginnen und vorher die Adaptations- und Kompensationsmechanismen des Körpers abzuwarten.

Adaptations- und Kompensationsfähigkeiten sind allgemein im Jugendalter deutlich höher als bei Senioren. Insbesondere bei Leistungssportlern bzw. sportlichen Menschen scheinen die auf das kiefergelenkbezogenen Kompensationsmöglichkeiten nach unseren Erfahrungen besonders hoch zu sein. Welche Konsequenzen daraus dann im fortgeschrittenen Lebensalter entstehen ist z.Z. nicht Gegenstand der Forschung, da wie im Kapitel: CMD und KFO beschrieben eine grundsätzliche Dynamik im Wachstum besteht. Allerdings zeigen Einzelfälle im Leistungssport: Per Mertesacker, Matz Hummels, Ingo Anderbrügge, das durch Optimierung der Kiefergelenksituation die körperliche Fitness gesteigert werden kann.

Wir empfehlen daher bei allen Sportlern und insbesondere bei Leistungssportlern eine Kiefergelenkfunktionsstatus zu erheben und ggf. auch frühzeitig mit der präventiven Therapie zu beginnen und nicht erst bei einsetzenden Schmerzen zu reagieren. Die in den Einzelfällen beschriebene Verbesserung der körperlichen Fitness ist dann ggf. ein schöner Nebeneffekt.